Von Nick Thorpe, 8. Juni 2023, zuerst veröffentlicht bei BBC News
"Die Tisa war flacher als ich erwartet hatte, nur bis Brusthöhe", sagte George. "Ich brauchte also nicht zu schwimmen. Ich bin einfach durch den Fluss gewatet."
Als er das rumänische Ufer erreichte, entdeckte ihn eine ukrainische Patrouille.
"Ich hörte zuerst Schüsse und dann eine Menge Beleidigungen. Aber ich hatte keine Angst. Wenn du einige Zeit an der Front verbracht hast, kennst du den Unterschied zwischen Kugeln, die in die Luft geschossen werden, und Kugeln, die auf dich abgefeuert werden."
George ist ein großer Mann mit einem sanften Gesicht und einem verwundeten Blick. Als Deserteur der ukrainischen Armee würden ihm 10 Jahre Gefängnis drohen, wenn man ihn erwischt.
George ist nicht sein richtiger Name. Seine und die Namen der anderen Ukrainer in diesem Beitrag wurden geändert, um ihre Identität zu schützen.
Seine erste Nacht in den Schützengräben war die schlimmste. Das war im März letzten Jahres, einen Monat nach Beginn des Krieges.
"Wir hatten 27 Tote und 57 Verletzte." Er scrollt auf seinem Handy durch die Bilder seiner ehemaligen Kameraden. Dabei legt sich seine Stirn in Falten und seine großen Hände zittern.
"Alle diese Leute sind tot, außer mir und der da" - er zeigt auf eine Frau in Tarnkleidung.
Er brauchte mehrere Wochen und Tausende von Euro, die er an ein Netzwerk von "Guides" gezahlt hat, um die gesamte Ukraine vom östlichen Kriegsgebiet bis zu dieser grünen und friedlichen Westgrenze zu durchqueren.
Die Durchsetzung der Wehrpflicht in der Ukraine kann schwierig sein, und die Korruption wird von den Behörden als großes Problem angesehen. Zuverlässige Quellen in der Westukraine sprechen von der Existenz einer "monatlichen Rate" - einer Zahlung, die geleistet wird, um jemanden aus der Armee herauszuhalten.
Es gibt auch Berichte von den ukrainischen Fronten, in denen Kommandeure das Rekrutierungsbüro bitten, ihnen keine Männer mehr zu schicken, die nicht kämpfen wollen oder zu viel Angst haben. Sie sind im Kampf nur eine Last. [Ganz davon abgesehen, dass es mit dem Auge nüchterner Menschlichkeit betrachtet eine grundsätzliche, menschenverachtende Frechheit darstellt, jemanden zum Töten und Sterben an die Front zu zwingen, bloß weil er die nötige Staatsbürgerschaft hat, ein Mann ist oder man seiner leicht habhaft werden kann. Dazu kommt, dass die Erfolge der ukrainischen Streitkräfte marginal sind, sie mit geliefertem Kriegsgerät aus dem Westen vielfach nicht umgehen können oder jenes gar nicht bis zur Front durchkommt, weil die russische Luftwaffe die Lufthoheit besitzt und z.B. anrückende Panzerkolonnen schon frühzeitig beschießen kann. Und wenn die NATO offiziell mit Piloten und Infanterie abrupt oder schrittweise in den Konflikt einsteigen würde, käme es langfristig zu einer direkten Konfrontation zwischen zwei Supermächten, die über Atomwaffen verfügen - wobei die dritte atomare Supermacht China an Russlands Seite steht und die diplomatische Reputation Moskaus und Pekings im Rest der Welt dazu beitragen dürfte, jene unbeteiligten Länder sofort gegen den Westen in Stellung zu bringen. Das mag Leuten nicht schmecken, die sich in das Narrativ haben einlullen lassen, mit ein paar Waffenlieferungen, kalt duschen und ganz viel "Stand With Ukraine" auf Social Media würde Kiew das Ruder mit Leichtigkeit herumreißen, aber es ist die Wahrheit: Die Sache ist zu heiß geworden. Ja, wer über Atomwaffen verfügt, der kann leider über die Grenzen andere Länder bestimmen. Da kann man sich noch so moralisch drüber empören - aber dafür wurden diese Waffen nun einmal vor Jahrzehnten entwickelt und hat nichts damit zu tun, dass man "das Putin durchgehen lassen" wolle. Es gibt einen Rahmen, in dem sich die militärische Unterstützung für Kiew bewegen kann, und dieser Rahmen ist zunehmend ausgereizt. Sich seit den ersten Anzeichen dafür immer noch weiter zu rühmen, man wolle den Tod unschuldiger Ukrainer verhindern, indem man das erkennbar überlegene Russland besiegen will und dafür den Krieg fortsetzen muss, ist entweder unfassbar dumm oder kriminell menschenfeindlich. Ginge es darum, Leben statt Land zu retten, würde man ALLEN Menschen, die es wollen, die Flucht aus dem Kriegsgebiet erlauben, anstatt sie als Kanonenfutter zur Durchsetzung von Regierungsinteressen in Geiselhaft zu nehmen. Dies hätte auch den Weg zur Versöhnung erleichtert: Ein Zuhause kann zerstört, Land verloren werden, aber beides kann man auch eines Tages wiederbekommen oder woanders finden. Die toten Familienmitglieder und Freunde dagegen sind nicht ersetzbar - und es ist eine blutige Frechheit, sie gegen ihren Willen für die Kontrolle über ein paar lächerliche Quadratkilometer zu opfern. Egal, ob man den Krieg begonnen hat oder nicht. Was nützt einem, dann nachträglich als Held irgendeiner bescheuerten, wie auch immer farbigen Flagge besungen zu werden? Wir sollten uns gefälligst einmal erinnern, wie es Elsa Koester im Freitag formulierte: "Für diesen Helden ist ein Mensch gestorben. Gestorben ist ein schnarchender Mann auf der anderen Seite des Bettes, der jetzt nur noch eine Kuhle unter einem kühlen Laken hinterlässt. Für den Helden gestorben ist ein in der Disko tanzender und lachender und liebender Mann, ein mit seinem Sohn im Wasser herumtollender Mann, ein nachts in die Halskuhle seiner Frau weinender Mann.", Anm. d. Übers.]
Doch viele Männer sehen in der illegalen Flucht in ein anderes Land ihre einzige Chance, dem Kampf zu entgehen.
Die ukrainische Armee hält auf der Straße am Fluss Tisa alle zehn Kilometer Autos und Busse an, um nach Wehrdienstverweigerern zu suchen. Ihre Datenbank, die zu Beginn des Krieges chaotisch war, wird immer besser.
Die ukrainische Grenzpolizei berichtete kürzlich, dass sie täglich bis zu 20 Männer festnimmt. Die BBC hat sich an die ukrainischen Streitkräfte gewandt und um eine Stellungnahme zu den Zahlen der Desertion und der Wehrdienstverweigerung gebeten.
Nach Angaben der rumänischen Einwanderungsbehörde haben jedoch 6 200 ukrainische Männer im wehrfähigen Alter seit der russischen Invasion im vergangenen Jahr die 600 km lange Grenze nach Rumänien illegal überquert und vorübergehenden Schutz erhalten.
Etwa 20.000 andere haben es auf legalem Weg dorthin geschafft, mit Ausnahmegenehmigungen ausgestattet - manchmal bezahlt, manchmal nicht - und haben sich entschieden, nicht zurückzukehren.
Und nach inoffiziellen ukrainischen Angaben sind in den letzten 15 Monaten 90 Männer auf dem Weg nach Rumänien gestorben - entweder ertrunken in der Theiß oder erfroren in den Bergen.
Beide Seiten haben mit Problemen zu kämpfen. Über die Geschichten Zehntausender Russen, die vor dem Krieg und der Mobilisierung fliehen, wurde bereits ausführlich berichtet.
Doch dies ist die Geschichte der Ukrainer, die den Krieg verlassen oder sich der Einberufung entzogen haben.
Dima rollt seine Socke zurück, um mir seinen rechten Fuß zu zeigen. Er sieht aus wie eine runde, rosafarbene Keule.
Er verlor alle Zehen durch Erfrierungen, als er das Maramures-Gebirge von der Westukraine nach Nordrumänien überquerte. Er war aus der Ukraine geflohen, als seine Einberufungspapiere kamen. Einer der vier Männer in seiner Gruppe starb.
"In der zweiten Nacht, während des Schneesturms, rief ich meine Frau an. Ich sagte, es täte mir leid, ich würde es nicht schaffen."
"Ich sagte ihm, er solle aufhören, dumm zu sein, aufstehen und weitergehen", sagt Katja, die neben ihm steht. Sie halten sich an den Händen, ganz fest.
Die Menschen, die wir hier getroffen haben, gehören meist der rumänischen Minderheit in der Westukraine an, aber unsere Nachforschungen haben ergeben, dass dies ein weit verbreitetes Phänomen im ganzen Land ist.
Die Grenze zwischen der Ukraine und Rumänien verläuft in diesem Abschnitt entlang eines Bergkamms. Auf der rumänischen Seite fällt sie fast senkrecht ab. Dorthin haben die "Guides" - in Wirklichkeit Schmuggler - Dima und neun weitere Männer gelotst.
Beim Versuch, abzusteigen, verlor Dima bei Wind und Eis das Gleichgewicht und stürzte den Berg hinunter, wobei er seine Stiefel, sein Telefon und eine seiner Socken verlor. Geprellt, blutend und erschüttert improvisierte er mit seinem zerrissenen Hosenbein und dem Telefonkabel eine Socke und stolperte weiter.
Der rumänische Rettungsdienst, der von seiner Frau alarmiert wurde, fand ihn nach vier Tagen und drei Nächten in den Bergen gerade noch lebend. Er wurde mit einem Hubschrauber in Sicherheit gebracht.
"Was würden Sie antworten, wenn man Sie einen Feigling nennen würde? frage ich, so sanft wie ich kann.
"Ich habe kein Land", sagt er unbeholfen. "Ich habe nur eine Familie." [Vgl. meine sehr ausführliche erste Anmerkung oben, Anm. d. Übers.]
In Baia Mare, einer großen, relativ wohlhabenden rumänischen Stadt nahe der ukrainischen Grenze, treffe ich Veronika, die früher als Ärztin in Saporischschja arbeitete, einer Stadt, die ständig unter russischem Raketenbeschuss steht.
Sie hat ihre Arbeit aufgegeben und ihren Sohn einige Wochen vor seinem 18. Geburtstag nach Rumänien in Sicherheit gebracht, damit er nicht zur Armee geht. Sie zeigt mir ein Foto. Ein fleißiger Junge mit Brille und Harry-Potter-Look.
"Er hat einen sehr guten Verstand, aber körperlich ist er nicht stark. Ein Land kann nicht nur einen Militärdienst haben. Ein Land muss auch Köpfchen haben. Ich denke, mein Sohn ist das Köpfchen meines Landes in der Zukunft.
Wie George und Dima hat auch sie keine Ahnung, ob und wann sie jemals in die Ukraine zurückkehren können.
Maria, eine 22-jährige rumänische Grenzschutzbeamte, öffnet den Kofferraum ihres Streifenwagens und zeigt mir eine Plastiktüte voller Decken und Männerkleidung.
"Wenn die Menschen hier den Fluss überqueren, sind sie kalt und nass und haben Angst. Sie denken, dass wir sie zurückschicken werden. Aber das tun wir nie", sagt sie.
Da sie Ukrainisch spricht, ist sie oft die erste Person, mit der die Männer sprechen.
Einige, wie George, haben Kampfwunden, die durch die Strapazen des Grenzübertritts wieder aufbrechen. Andere haben sich die Füße am Stacheldraht und an zerbrochenen Flaschen geschnitten, die die ukrainischen Soldaten angeblich zur Abschreckung ins Wasser geworfen haben.
Maria tut ihr Bestes, um sie zu beruhigen: "Ich versuche mein Bestes, ihnen zu helfen und für sie zu sorgen, denn das ist es, was sie von uns brauchen. Und ich gebe ihnen Essen und medizinische Versorgung, wenn nötig".
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Im Originalartikel sind eine Karte der rumänisch-ukrainischen Grenzregion sowie weitere Fotos zu sehen. Achtung, auch von "Dimas" entstelltem Fuß!
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