Einsteins (zu) enormes Erbe
- Simon Everyoung
- 17. Apr.
- 7 Min. Lesezeit
Albert Einstein: Physik-Genie, Nobelpreisträger, Pazifist. Daran erinnert uns heute ein Porträt mit dem Titel "Von Einsteins enormem Erbe" in meiner Regionalzeitung, anlässlich seines 70. Todestages. Ein Aspekt seines Wirkens, der ebenfalls für die Weitsicht Einsteins spricht, wurde aber tunlichst umschifft...
Was heute in der Zeitung stand...
Es wird durchaus mit den Zwischenüberschriften "Gegen alle Diktaturen" und "Gegen alles Militärische" Einsteins Pazifismus im Allgemeinen hervorgehoben, den Faschismus und den Bolschewismus habe er wegen ihres diktatorischen Wesens gleichsam abgelehnt. Stattdessen bräuchte es laut ihm ein Weltregierung, um die Kriegsgefahr durch bewaffnete, voneinander getrennte Staaten zu bannen. Es wird geschildert, dass "der Pazifist Einstein" angesichts des NS-Terrors, vor dem er als gebürtiger Jude 1933 über Belgien in die USA flüchtete, "vor einem Dilemma" gestanden habe:
"Im belgischen Küstenort De Haan, wo er sich vor seiner Abreise in die USA mehrere Monate aufhielt, räumte er mit Blick auf die politischen Umwälzungen in Deutschland ein, dass die Armee seines Gastlandes Belgien unter Zugzwang stehe. Zur Verteidigung sei deren Wehrkraft "gerade jetzt dringend notwendig.""
Danach wird sein Biograf Walter Isaacson zitiert, den die "Reaktionen auf diese Neubewertung [...] an aktuelle Debatten um Aufrüstung angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine" erinnern:
"Nach dem Einstein jahrelang von seinen konservativen Freunden als naiv bezeichnet worden war, warfen ihm jetzt die Linken vor, ihm fehle der politische Durchblick."
Ein nuancierter Vergleich zu einem aktuellen Thema, den man durchaus ziehen kann.
Was heute nicht in der Zeitung stand...
Albert Einsteins Pazifismus äußerte sich aber noch in einer anderen Auffassung, die bis heute und besonders jetzt gerade relevant ist: Einstein war gegen den Auf- bzw. Ausbau eines monoethnischen, jüdischen Staates Israel in Palästina auf Kosten der dort einheimischen, arabischen Bevölkerung. Vielmehr war er ein Vertreter der Strömung innerhalb des Zionismus, die das Judentum durch moralisches Wachstum wiederbeleben wollten, nicht durch aggressive Landnahme, Vertreibung oder Selbstüberhöhung.
Der Journalist und Nahost-Experte Michael Lüders hat in seinem neuesten Buch "Krieg ohne Ende? Warum wir für einen Frieden im Nahen Osten unsere Haltung zu Israel ändern müssen" die Positionen und Reaktionen Einsteins zu Israels Staatswerdung ausgeführt. Zum besseren Verständnis des Kontexts sei die betreffende Passage hier ungekürzt zitiert:
"Der gebürtige Ulmer Albert Einstein (1879 - 1955), obgleich in einer assimilierten und vollständig säkularisierten Familie aufgewachsen, kam in seiner Einordnung des Zionismus zu sehr ähnlichen Schlüssen wie [Martin] Buber. Er unterstützte die Idee einer "Heimstätte" für die Juden in Palästina, nicht aber auf Kosten der Araber [Für dieses Ziel trat der bereits 1925 u.a. von Buber und Einstein gegründete "Bund des Friedens" (Brit Shalom) ein, Anm. d. Autors]. Die friedliche Koexistenz mit den Nachbarn sei wichtiger als jedes nationale Ziel. Wie Buber verstand sich auch Einstein als Kulturzionist und trat seinerseits für einen binationalen Staat ein. In einer Rede an 17. April 1938 in New York unter dem Titel "Was wir dem Zionismus schulden" erklärte er: "Ich ziehe ein vernünftiges und friedliches Zusammenleben mit den Arabern der Gründung eines jüdischen Staates vor. Mein Verständnis der grundlegenden Natur des Judentums verträgt sich nicht mit der Idee eines jüdischen Staates mit Grenzen, einer Armee und weltlicher Macht, wie bescheiden auch immer. Ich sehe mit Sorge, welchen Schaden das Judentum in dem Fall nehmen könnte - vor allem mit Blick auf den engstirnigen Nationalismus in unseren Reihen, gegen den wir bereits mit aller Kraft zu kämpfen hatten, sogar ohne jüdischen Staat... Sollten äußere Notwendigkeiten uns dennoch veranlassen, diese Last auf uns zu nehmen (gemeint ist die Gründung eines jüdischen Staates, M.L.), dann sollten wir das mit Taktgefühl und Geduld angehen." Und bereits 1935 formulierte der überzeugte Pazifist Einstein, was ewig gültig bleiben dürfte: "In zwei Wochen gelingt es den Zeitungen, die schafgleichen Massen in einen Zustand von Erregung und Wut zu versetzen, bis sie eine Uniform anziehen und für die sinnlosen Ziele einiger weniger interessierter Parteien töten oder getötet werden." Einstein plädierte zwar für eine jüdische "Heimstätte" mit "binationalem Status in Palästina", bei "freier Einwanderung", doch ohne separaten Staat. In einem Schreiben vom 21. Januar 1946 widersprach er ausdrücklich dem Mainstream-Zionismus: "Es ist meiner Ansicht nach eine Frage des gesunden Menschenverstandes, dass wir nicht die politische Herrschaft in Palästina beanspruchen können, wenn zwei Drittel der Bevölkerung aus Nichtjuden besteht." Mehr als einen binationalen Staat zu fordern "schadet unserem Anliegen, und ich verstehe nicht, warum unsere Zionisten einen so intrasigenten Standpunkt einnehmen, der für uns nur nachteilig sein kann".
Wie Martin Buber sprach sich auch Einstein gegen die Teilung Palästinas aus und warnte Chaim Weizmann 1946 vor einem "jüdischen Nationalismus wie in Preußen". Im Zuge der israelischen Staatswerdung 1947-48 und der sie begleitenden Gewalt an den Palästinensern wurden Einsteins Überzeugungen jedoch mehr als erschüttert. Vor allem das Massaker in Deir Yassin, einem westlichen Vorort Jerusalems, am 9. April 1948 hat ihn zutiefst entsetzt. An jenem Tag wurde das kleine, friedliche Dorf mit seinen 600 Einwohnern von etwa 120 zionistischen Paramilitärs grundlos attackiert. 150 Frauen, Männer und Kinder wurden massakriert, bei einigen Leichen Köpfe oder Gliedmaßen abgetrennt. Der Ort wurde geplündert, mehrere Frauen wurden vergewaltigt, einige Überlebende durch die Straßen Westjerusalems getrieben, wo ein jüdischer Mob sie anspuckte, ihnen die Kleider vom Körper riss, sie mit Steinen bewarf und schließlich umbrachte.
Das Massaker von Deir Yassin löste eine Massenflucht der Palästinenser aus - was auch beabsichtigt war. Die Verantwortlichen, offenkundig stolz auf ihre Tat, luden alle ausländischen Korrespondenten im Land ein, die geschändeten Leichen und die Zerstörung im Dorf in Augenschein zu nehmen. Die treibende Kraft dieser Brutalität war die Organisation "Irgun Zvai Leumi" (deutsch: "Nationale Militärorganisation"), kurz Irgun, eine revisionistische, rechtsradikale Gruppierung unter Führung von Menachem Begin, von 1977 bis 1983 Israels Premierminister. Begin selbst hat am Massaker allerdings nicht teilgenommen, er hielt sich nach zahlreichen Terroranschlägen auf die Briten versteckt. Am bekanntesten wurde die von ihm veranlasste Sprengung des King David Hotel in Jerusalem, damals der britische Verwaltungssitz in Palästina, am 22. Juli 1946 mit 91 Toten.
Die Kämpfer der Irgun wurden nach der Staatsgründung Teil der israelischen Armee, ohne jemals juristisch belangt zu werden. Aus deren politischen Flügel ging 1948 die "Cherut"-("Freiheits"-)Partei hervor, deren Logo ein siegreich erhobenes Gewehr über der Landkarte von Israel/Palästina und Jordanien zeigt, versehen mit dem Spruch: "Beide Ufer des Jordan - dieses gehört uns, das andere auch".
[...]
1973 ging die Cherut unter Führung von Begin und Ariel Sharon ein Wahlbündnis mit anderen, kleineren Rechtsaußen-Parteien ein und nannten sich "Likud", deutsch "Konsolidierung", nämlich der israelischen (Ultra-)Rechten. Die Cherut blieb in diesem Bündnis die dominante Kraft, fusionierte aber 1988 mit den übrigen Koalitionären zur nunmehr singulären Likud-Partei, was an der Vorherrschaft der vormaligen Cherut-Funktionäre nichts änderte. 1993 wurde Benjamin Netanjahu ihr Vorsitzender, bis er sechs Jahre später Ariel Sharon abgelöst wurde. Die Machtbasis der Likud sind neben Siedlern und Militärs vor allem Mittelschichtsangehörige der Sephardim, der Israelis nichtwestlicher Herkunft. (Israelis europäischer oder nordamerikanischer Herkunft werden als Ashkenasim bezeichnet.)
Immer wieder zeigt sich, dass es in Israel an historischer Kontinuität nicht fehlt. Die zweite bedeutende revisionistische Bewegung, ebenfalls am Massaker in Deir Yassin beteiligt, nannten sich "Lechi", ein hebräisches Akronym für "Kämpfer der Freiheit Israels". Die Briten bezeichneten diese Gruppe nach ihrem ersten Anführer, dem 1942 nach zahlreichen Anschlägen hingerichteten Avraham Stern als "Stern-Bande". Einer ihrer führenden Vertreter war Jitzchak Schamir, israelischer Ministerpräsident 1983/84 und von 1986 bis 1992. Darüber hinaus war er Netanjahus Vorgänger als Parteivorsitzender des Likud.
Die bekannteste Untat der Lechi ist die Ermordung des UN-Gesandten für den Nahen Osten, des schwedischen Diplomaten Graf Folke Bernadotte, am 17. September 1948 in Jerusalem. Sein Todesurteil war, dass er sich für die Rechte der Palästinenser eingesetzt hatte. "Stockholm gehört euch, Jerusalem ist unser!", lautete der Schlachtruf der Terroristen. Sie wurden gefasst, verurteilt und später amnestiert. Die meisten "Kämpfer" schlossen sich nach Auflösung ihrer Organisation der Cherut-Partei an.
Am 4. Dezember 1948 veröffentlichte die New York Times einen offenen Brief von 28 führenden jüdischen Intellektuellen, darunter Albert Einstein und Hannah Arendt. Darin verurteilten sie den geplanten Besuch von Menachem Begin in den USA, wo er für die Cherut zu werben versuchte. Die Autoren machten ihre Haltung mehr als deutlich: Diese Partei sei "in ihrer Organisation, ihren Methoden, ihrer politischen Philosophie und sozialen Zielgruppe der Nazi-Partei und faschistischen Parteien sehr ähnlich. Sie rekrutiert sich aus der früheren Irgun Zvai Leumi, einer terroristischen, rechtsradikalen, chauvinistischen Organisation in Palästina... Es ist unvorstellbar, dass diejenigen, die dem Faschismus weltweit entgegentreten, jene (von Begin verkörperte, M.L.) Bewegung unterstützen, so sie über den politischen Werdegang und die Ansichten von Herrn Begin Kenntnis erhalten." Nachfolgend führt das Schreiben aus, wie die Cherut ihre Anhänger erst rekrutiert, dann einschüchtert, und gelangt zu dem Schluss: "Es gibt nicht den geringsten Zweifel, dass es sich um eine faschistische Partei handelt, für die Terrorismus (gleichermaßen gegen Juden, Araber und Briten gerichtet) ebenso wie Machtmissbrauch Mittel zum Zweck ist. Ihr Ziel ist der 'Führerstaat'."
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Einstein es ablehnte, nach dem Tod Chaim Weizmanns 1952 Israels zweiter Präsident zu werden. Ungeachtet seiner hinlänglich bekannten Kritik und Ablehnung eines radikalisierten politischen Zionismus würdigte ihn die New York Times in ihrem Nachruf dennoch als einen "führenden Unterstützer für die Errichtung eines jüdischen Staates". Heute gilt Einstein, Mitbegründer der Hebräischen Universität, in Israel als politische und wissenschaftliche Ikone. Seine Kritik am übersteigerten jüdischen Nationalismus dagegen geriet in Vergessenheit oder wurde ignoriert. "
(Michael Lüders: Krieg ohne Ende? Warum wir für einen Frieden im Nahen Osten unsere Haltung zu Israel ändern müssen. München 2024. S. 85-89)
Der Griff ans heiße Eisen
Zum 70. Jahrestag hätte man dieser Vergessenheit entgegentreten und dem pazifistischen Geist Einsteins ja insofern die Ehre erweisen können, dass man diskutiert, wie er die aktuelle Lage beurteilt hätte.
Was hätte er zum illegalen Siedlungsbau gesagt? Zur Zerstörung Gazas, begleitet von Amalek-Vergleichen und Bezeichnung der Gegenseite als "menschliche Tiere"? Zur Anklage Israels wegen Kriegsverbrechen bis hin zum Völkermord? Und dass ausgerechnet Deutschland (zudem zweitwichtigster Lieferant von Waffen nach Israel) Tel Aviv in dieser Angelegenheit zur Seite springt? Dass Deutschland sich aus politischen Gründen dem Haftbefehl gegen Netanjahu verweigert und offensiv betont, ihn nicht auszuliefern? Dass Deutschland bei der Einbürgerung von seinen zukünftigen Staatsbürgern verlangt, das Existenzrecht eines anderen Staates, eben Israels, anzuerkennen? (Als ob dessen Ablehnung durch eine Zahl einfacher Leute Israels Existenz gefährden könnte...)
Dass Menschen, die sich für die Palästinenser einsetzen, nicht nur von privaten Denunzianten behindert, sondern gar mit einem Betätigungsverbot davon abgehalten werden, auf Veranstaltungen in Deutschland zu sprechen, egal ob persönlich, per Liveschaltung oder auch nur durch eine vorgefertigte Videobotschaft? Und dass Israel ausgerechnet auch über Atomwaffen verfügt?
Das wären spannende Fragen, die eine komplette Seite, wenn nicht mehrere gefüllt hätten - geschrieben wurde zu diesem Thema nicht ein Satz. Da war Einsteins Erbe dann vielleicht doch zu enorm...
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