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Berlusconi übt berechtigte Kritik an Selenskij, Melonis Regierung dementiert mit Allgemeinplätzen

Italiens ehemaliger Regierungschef Silvio Berlusconi ist vom Nimbus des ukrainischen Präsidenten und der Art von Hilfe, die Kiew aus dem Westen erhält, wenig angetan. Um das zu wissen braucht es keine geleakten Telefonate des 86-Jährigen mehr: Am Rande der Regionalwahlen in der Lombardei gestern äußerte er sich vor Journalisten, dass er das Verhalten Selenskijs "sehr, sehr negativ" beurteilt. Er verweist darauf, dass man aktuell die Verwüstung der Ukraine und ein Massaker an deren Militär und Zivilbevölkerung erlebe, jedoch habe es an Selenskij gelegen, "die Angriffe auf die beiden autonomen Republiken des Donbass einzustellen, und das ist nicht geschehen." Ein Reporter hakte nach, ob er nicht die Position von Ministerpräsidentin Georgia Meloni teile, dass es zum Frieden beitragen würde, wenn man durch Aufrüstung eine militärische Augenhöhe beider Armeen erreiche. Berlusconi lehnte das ab, vielmehr solle der US-Präsident zu Selenskij gehen und ihm einen "Marshall-Plan" in Milliardenhöhe zum Wiederaufbau der Ukraine versprechen - unter der Bedingung eines sofortigen Waffenstillstandes.


Italiens Außenminister Antonio Tajani twitterte noch am gleichen Abend, Forza Italia sei "immer für die ukrainische Unabhängigkeit, an der Seite Europas, der NATO und des Westens" gewesen. Und Staatschefin Meloni ließ laut Merkur mitteilen, man unterstütze die Ukraine "fest und überzeugt".


Solche allgemeinen Aussagen kann man höflich als "diplomatisch" bezeichnen. "Ukrainische Unabhängigkeit" klingt schön, liefert aber keine Handlungsanweisungen bei konkreten Einzelfällen. Und "immer" an der Seite eines Staatenbundes, eines Militärbündnisses oder eines wie auch immer verstandenen "Westens" zu stehen schließt ebenfalls keine gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten aus. Dennoch sind vage Begrifflichkeiten in der Rhetorik um den Ukraine-Krieg der Standard, obwohl man viel differenzierter an die Sachlage herangehen muss. Melonis Position, dass zwei gleichstarke Armeen sich gegenseitig zugunsten eines Waffenstillstandes abschrecken, ist hypothetisch, denn Kiew müsste die Waffen zunächst einmal bekommen, die Soldaten müssten daran ausgebildet werden - und das dauert. Schneller ginge es nur, wenn die NATO offiziell mit eigenen Truppen das Schlachtfeld betritt und einen 3. Weltkrieg mit Atomwaffen in Griffnähe beider Seiten riskiert. Oder voll ausgebildete NATO-Soldaten hängen ihren Job an den Nagel und gehen undercover als Söldner in die Ukraine, wie der österreichische Oberst des Generalstabs, Markus Reisner (hier bei 01:16:52) nüchtern festhält. Dann müssten allerdings ebenfalls genug Freiwillige gefunden werden, um das Ruder herumzureißen. Ganz davon abgesehen muss man unterscheiden zwischen "Frieden in der Ukraine" und einem Sieg Kiews. Das eine muss das andere je nach Lesart nicht bedingen. Ersteres wollte man mit dem Minsker Abkommen schon erreichen, als die Spannungen innerhalb der Ukraine noch lediglich ein Bürgerkrieg waren (bei dem Russland offiziell nicht beteiligt war). Zumindest hatte man diesen Zweck so kommunizieren lassen und er geht aus den 13 Punkten von Minsk II auch hervor. Indessen wurde im Westen aber offen klargestellt, man habe damit lediglich Kiew Zeit verschaffen wollen, sich für diesen vertagten Krieg gegen Russland aufzurüsten, sei es von Merkel oder Hollande. Und selbst Selenskij, der sich bei aller Kritik an Moskau für den Minsker Friedensprozess, die diesen beschleunigende Steinmeier-Formel und einen unausweichlichen Dialog mit Putin ausgesprochen hatte, sagte nun, Kiew habe nie vorgehabt, das Abkommen ernsthaft umzusetzen, sondern lediglich für den Austausch von Kriegsgefangenen genutzt.

Man bedenke: Die anhaltenden, blutigen Kämpfe zwischen dem anti-russischen Post-Maidan-Kiew und der dominanten russischen Minderheit im Donbass waren der Grund oder mindestens die Begründung für die Eskalation ab Februar 2022. Für die Moskau ganz klar einen Teil der Verantwortung trägt, denn niemand kann bestreiten, dass das russische Militär auf ukrainischem Boden kämpft - außerhalb seines Territoriums und offenkundig nicht mit Genehmigung aus Kiew. Dass es Russland oder die Regierung Putin ist, die diesen Einmarsch durchgeführt hat, spielt für diese Bewertung keine Rolle, illegal ist illegal - genauso wenig, wie es eine Rolle spielt, wie sympathisch oder unsympathisch man die NATO-Führungspersonen findet, die mit dem sukzessiven Vorrücken ihres anti-russischen Militärbündnisses bis an Russlands Grenze eine entscheidende Sicherheitsgarantie an Moskau vom Ende des Kalten Krieges, dass nämlich genau das nicht passieren würde, gebrochen haben.


Das Sterben zu beenden heißt, den schnellsten Weg zu einem Ende der Kampfhandlungen einzuschlagen, denn Krieg ist von der Idee her ein Wettlauf darum, wer das gegenseitige Töten länger durchhält, ohne nachzugeben. Und da Armeen sich nicht zum gesitteten Duell auf einer Wiese weit draußen vor der Stadt treffen, sind zivile Opfer im Krieg die bittere Normalität. Ginge es wirklich nur darum, dass sich die per se zu hohen Leichenberge nicht weiter stapeln, müsste man alle Maßnahmen, die den Krieg verlängern, ablehnen. Dafür muss man sich allerdings die Interessenlagen aller Ebenen ansehen und evaluieren, was realistisch ist. Und da reicht es nicht, klar parteiische Einzelentscheidungen mit weitläufigen Phrasen zu begründen, speziell wenn sie der Einzelentscheidung sogar eher widersprechen.


Kiew, will heißen die Westukraine, kann vor Russland nicht zurückweichen, ohne Zugeständnisse zu machen. Kiew akzeptiert allerdings nicht den Verlust der Ostukraine oder der Krim und möchte beides unbedingt zurückerobern. Die Krim wird Russland jedoch nicht hergeben - und dass die Menschen im Donbass nach bald neun Jahren Beschuss durch Kiew wieder unter westukrainischer, russenfeindlicher Kontrolle stehen wollen, ist ebenfalls eher unwahrscheinlich (zumal die Russenfeindlichkeit nach diesem Krieg wohl nochmal länger anhalten wird). Ganz davon abgesehen, dass die BBC bereits 2019 konstatierte:


"Die meisten Menschen mit stark pro-ukrainischen Ansichten haben die besetzten Gebiete zu ihrer eigenen Sicherheit längst verlassen. Daher scheint es fast unvermeidlich, dass die Wahlen die Position der mit Russland verbündeten Führer, die derzeit im Amt sind, festigen und ihnen die Anerkennung verschaffen, nach der sich Moskau schon lange sehnt."


Man kann gute Gründe dafür finden, dass Moskau aus den Donbass-Republiken abziehen sollte. Eine sofort folgende Besetzung respektive Rückeroberung durch Kiew würde die Spannungen allerdings nicht abbauen, sondern wohl einen Terrorkrieg zwischen den Separatisten und Kiew neu aufflammen lassen, wenn vor Ort keine Mehrheit ist, die die "Retter" aus dem Westen unterstützt.


Dazu kommt eine Perfidie, welche Berlusconi in seiner skandalisierten Aussage nicht erwähnt hat: Zwar war es Moskau, das den Angriff auf die Ukraine begonnen hat. Doch es war Kiew, dass seinen eigenen Bürgern erschwert hat, sich vor dem Massaker, wie Berlusconi es treffend nennt, zu retten: Es war Selenskij, der es wehrfähigen, "verzichtbaren" Männern sofort nach Kriegsausbruch verboten hat, das Land zu verlassen. Es war ebenfalls Selenskij, der trotz Widerstand längere Gefängnisstrafen für Befehlsverweigerer autorisiert hat. Und zu allem Überfluss scheint es Zwangsrekrutierungen durch das ukrainische Militär zu geben oder zumindest gegeben zu haben, die als regelrechte Entführungen beschrieben wurden. Provokant in einem Satz: Es drängt sich der Eindruck auf, dass Kiew im Wissen um die eigenen militärischen Schwierigkeiten die ukrainische Bevölkerung in landesweiter Geiselhaft hält, während Selenskij und seine Unterstützer weltweit um Mitleid bitten - und Waffenlieferungen, damit die armen ukrainischen Soldaten auch wieder heil nach Hause zu ihren geretteten Familien kommen. Nochmal: Niemand kann die Anwesenheit der russischen Truppen und ihr Vorrücken in der Ukraine bestreiten. Dennoch gibt es auch für Kiew selbst in dieser Situation immer noch einen gewissen Handlungsrahmen, wie man darauf reagiert und seine Prioritäten setzt. Ginge es Selenskij wirklich nur darum, den Tod weiterer gesunder, unschuldiger Ukrainer in der Blüte ihres Lebens zu verhindern, hätte es jederzeit in seiner Macht gestanden, ihnen durch das Aufheben der Ausreisebeschränkung zumindest die Flucht ins Ausland zu erlauben. Und es wären nur die geblieben, die freiwillig kämpfen wollen und einen Sieg für realisierbar halten, unabhängig davon ob sie Recht gehabt hätten oder nicht. Hauptsache, diejenigen, denen ihr Leben mehr wert ist als der ukrainische Ostgrenzverlauf, wären nicht in Lebensgefahr gezwungen worden.


Wer hierauf erwidert, Selenskij hätte das nicht tun können, da die Ukraine sonst noch viel mehr Verteidigungsfähigkeit eingebüßt hätte, billigt dieses Vorgehen und gesteht ein, dass es eben nicht bloß darum geht, Leben zu schützen, sondern den ukrainischen Staat in den Grenzen von 2013. Und das ist nicht nur eine Forderung, die weitere Leben kosten wird, sondern auch eine Maximalforderung, die einen Verhandlungsfrieden, der Kompromissbereitschaft und Feingefühl benötigt, erschwert. Alles darunter ist in der gegenwärtigen Kriegsrhetorik (und den Augen jener rechtsextremen Gruppierungen in der Ukraine seit jeher) eine "Niederlage", nicht nur für Kiews Rückeroberungsambitionen, sondern auch für seine bereitwilligen Sponsoren in der NATO, für die es beim Schauplatz Ukraine noch um ganz andere Interessen geht. John Bolton, ehemaliger nationaler Sicherheitsberater der US-Regierung, schrieb selbst Anfang des Jahres noch unverblümt im Telegraph:

"Wenn Washington und London die Ukraine in den nächsten 12 Monaten nicht in den Griff kriegen, werden die negativen Folgen weit über das gegenwärtige Schlachtfeld hinaus spürbar sein. Es wird bergab gehen im Umgang mit China, dem Iran, Nordkorea und anderen, die alles andere als einen eindeutigen Sieg für Kiew als Beweis für westliche Schwäche sehen werden, die sie ohne zu zögern ausnutzen werden."


Daher überrascht es nicht, wenn nun auch der ehemalige israelische Premierminister Naftali Bennet letzte Woche in einem langen Interview (ab ca. 2 Stunden 30) zu der Einschätzung kommt, dass der Westen seine Vermittlungsbemühungen zwischen Kiew und Moskau in der frühen Phase des Krieges, als man noch Steigerungspotential für Kiews Aufrüstung sah, untergraben habe.


Genug von dem, was Berlusconi nicht gesagt hat und zum eigentlichen Punkt, auf den er verwiesen hat: Was hat es denn mit dem Beschuss der Donbass-Republiken auf sich, für deren Fortsetzung er den ukrainischen Präsidenten verantwortlich macht?

Der Donbass wird seit 2014 von Kiew im Rahmen des Kampfes gegen russisch-ukrainische Separatisten in der Region beschossen. Die Vereinbarungen in Minsk waren wie gesagt der Versuch, die Kampfhandlungen zu beenden. Die OSZE beobachtete die Einhaltung oder vielmehr die Verletzungen des Waffenstillstandes, der durch die Unterzeichnung von Minsk II vereinbart wurde. Am 19. und 20. Februar 2022 war ein deutlicher Anstieg der Waffenstillstandsbrüche verzeichnet worden - vor allem Explosionen auf Seiten der Separatisten, besonders in unmittelbarer Nähe zu Donetzk, wie auf der Karte auf Seite 3 dieses OSZE-Reports zu sehen ist. Einen Tag später erkannte Moskau die separatistischen Volksrepubliken im Donbass an und schickte militärische Verstärkung zu den frischgebackenen Verbündeten. Wenn jetzt weiter geschossen würde, könnte Russland ganz offiziell in den Konflikt einschreiten. Und in dieser nochmals gesteigerten Spannungslage... ging der Beschuss auf Donetzk nicht nur weiter, der auf Lugansk nahm sogar zu.


Eines könnte man Berlusconi allerdings entgegenhalten: Mancher traut Selenskij vielleicht nicht sonderlich viel Einfluss auf die Lage an der Front zu, wenn er als Präsident, als offiziell mächtigster Mann im Staat einen Abzug anordnet - und die Soldaten vor Ort wie selbstverständlich lieber mit ihm über widersprechende Proteste reden wollten...

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