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Diether Dehm zeigt Andrij Melnyk an - Erfolgschancen? Wohl kaum...

Der Liedermacher und ehemalige Bundestagsabgeordnete Diether Dehm hat vorgestern auf Twitter angekündigt, gegen Andrij Melnyk Strafanzeige zu stellen. Grund dafür ist laut Dehm eine Karikatur zu seiner Parteigenossin Sahra Wagenknecht und der Publizistin Alice Schwarzer, die der Vize-Außenminister und ehemalige Botschafter der Ukraine mehrere Tage vorher gepostet hat.

Laut Dehm wünsche Melnyk...


"...den beiden Frauen als „Schlampe“ ein Vergewaltigungsritual herbei. Dies richtet sich nicht nur gegen die beiden Hauptinitiatorinnen der Abrüstungskundgebung am 25. Februar in Berlin, sondern gegen die gesamte Abrüstungsbewegung."


Das Problem, auf das auch einige Nutzer hinwiesen, ist, dass Dehm die Karikatur offensichtlich missverstanden hat. Das Bild zeigt Wagenknecht und Schwarzer über dem Untertitel: "Der Schlichtungsplan der Opferanwältinnen", der laut des Textes über ihren Köpfen wie folgt lautet:


"Hey, Schlampe! Es geht für alle schneller vorbei, wenn du ihm gibst, was er will und schrei bitte nicht so, andere haben auch ein Recht auf Frieden"


Eindeutig werden hier nicht die beiden Frauen angesprochen, sondern ganz im Gegenteil: Sie werden als vermeintliche Helfer dargestellt, die einem Vergewaltigungsopfer unmissverständlich davon abraten, sich zu wehren.


Hintergrund: Das "Manifest für Frieden"


Wer nicht im Bilde sein sollte, worum es geht, hier die Kurzfassung:

Am 10. Februar haben Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht das s.g. "Manifest für Frieden" veröffentlicht und bekannt gemacht, verbunden mit einer Petition auf change.org und einer geplanten Kundgebung am Brandenburger Tor am 25. Februar. Der Text beginnt mit der Bestandsaufnahme:


"Heute ist der 352. Kriegstag in der Ukraine. Über 200.000 Soldaten und 50.000 Zivilisten wurden bisher getötet. Frauen wurden vergewaltigt, Kinder verängstigt, ein ganzes Volk traumatisiert. Wenn die Kämpfe so weitergehen, ist die Ukraine bald ein entvölkertes, zerstörtes Land. Und auch viele Menschen in ganz Europa haben Angst vor einer Ausweitung des Krieges. Sie fürchten um ihre und die Zukunft ihrer Kinder.

Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität. Aber was wäre jetzt solidarisch? Wie lange noch soll auf dem Schlachtfeld Ukraine gekämpft und gestorben werden? Und was ist jetzt, ein Jahr danach, eigentlich das Ziel dieses Krieges?"


Die Frage nach dem Sinn und Ziel des Krieges wurde in Russland auch schon gestellt, etwa bereits Ende September letzten Jahres vom Linksfront-Politiker Sergej Udalzow in einem Beitrag in der Svobodnaya Pressa:


"Wie die jüngsten Ereignisse gezeigt haben, geben verschiedene Einschaltquoten und Meinungsumfragen, gelinde gesagt, keine ganz zuverlässige Vorstellung vom Grad des Patriotismus in der russischen Gesellschaft. Daher stellte sich nach der Ankündigung der teilweisen Mobilisierung, als die SVO an viele Häuser "klopfte", heraus, dass eine beträchtliche Anzahl von Bürgern, die verbal patriotische Unterstützung für die Aktionen der Behörden zum Ausdruck brachten, in der Praxis nicht bereit waren, sich für die Interessen unseres Staates zu opfern. Natürlich hatte mancher einfach Angst, zeigte Egoismus usw. usw.

Aber ich persönlich kenne viele Menschen, die von der Mobilisierung nicht begeistert sind, weil sie den Behörden einfach nicht trauen und die wahren Absichten der Führung des Landes nicht verstehen, die sie heute in die Ukraine schickt. Viele sagen offen, dass sie nicht damit einverstanden sind, Blut zu vergießen und ihr Leben für den Wohlstand in Ungnade gefallener Oligarchen und diebischer Beamter zu riskieren. Und die Zweifel solcher Leute sind durchaus berechtigt.

Offen gesagt, haben wir in den sieben Monaten der Spezialoperation immer noch keine klare Antwort von den Behörden auf die Frage gehört, mit welcher Perspektive wir an der SVO teilnehmen sollen."


Udalzow beantwortete die Frage, die Schwarzer und Wagenknecht nur stellen. In seinen Augen sei es "das Interesse des Westens [...], Russland in eine lange Konfrontation mit der Ukraine zu ziehen, die weiterhin intensiv mit Waffen, Söldnern und Finanzen 'vollgepumpt' wird, um den Konflikt fortzusetzen." Weswegen er damals das russische Vorgehen als Versuch beschrieb, "aus der 'ukrainischen Falle' eines langwierigen und blutigen Zermürbungskrieges zu springen."


Und dieser langwierige Krieg, egal ob man nun Putin, den Westen oder beide dafür verantwortlich macht, kostet jeden Tag unzählige Menschen in der Ukraine ihr Leben, woran auch Selenskij nicht ganz unschuldig ist, wie ich letzte Woche dargelegt habe. Die Spannung zwischen dem NATO-Westen mit seinem halboffiziellen "Maskottchen" Kiew und dem BRICS-Mitglied Russland ist die eine Ebene dieses Krieges. Die Ukrainer, die für diesen geopolitischen Schlagabtausch seit dessen Beginn geopfert werden, sind die andere.

Wie oben zitiert betonen Schwarzer und Wagenknecht dieses tragische Schicksal explizit und argumentieren nachfolgend gegen den Faktor, auf den man hierzulande einwirken könne: Die Beteiligung Berlins an der Aufrüstung Kiews.


Das kam nicht überall gut an, schon gar nicht bei Kiews genannten Vertreter, dem - in mehrfacher Hinsicht - ehemaligen Diplomaten Andrij Melnyk. Er reagierte mit der Karikatur und dem Kommentar: "Schande. Schande. Schande"


Woher stammt die Karikatur?


Bisher unerwähnt, soweit ich sehe, ist die ursprüngliche Quelle der Karikatur. Denn natürlich hat Melnyk die Zeichnung nicht selbst angefertigt, sondern ein Cartoonist und Mediendesignprofessor namens Guido Kühn, dessen Arbeit auf der Website "Guidos Welt - Die Welt aus Sicht meiner Stifte" einsehbar ist. Wohl wegen der vielen Bilder lädt die Seite eher langsam, aber wenn sie es einmal getan hat, darf man feststellen, dass die Sicht von Kühns Stiften sich sehr gut mit jener der Grünen verträgt. Dafür sprechen neben der eigenen Rubrik "Nur KLIMA-Cartoons" und deren Inhalt auch die aufgeführten Verbindungen, z.B. buntdenker, Comics gegen Rechts oder Artists for Future.


Die Karikatur von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht ist dort mit dem Titel "Die Manifesten" zu finden. Kühn selbst kommentiert darunter:


"Klar sei es ungerecht, jedoch verlangen Wagenknecht und Schwarzer in ihrem Manifest zusammengefasst dass Opfer sich mit den Tätern arrangieren sollen, wenn es für Umstehende ungemütlich wird. Interessanter Move für eine ehem. Antiimperialistin und eine ehem. Frauenrechtlerin."


Ja, so kann man es durchaus zusammenfassen. Wen kümmert es schon, dass es einen feinen Unterschied zwischen Regierung und Bevölkerung gibt? Wohl kaum jemanden, der die Gefahr einer atomaren Eskalation mitten in Eurasien als "für Umstehende ungemütlich" abtun kann... Interessanter Move für einen Hochschulprofessor. Was einem blühte, wenn man die Aussicht auf eine Klimakatastrophe in Kühns Beisein ähnlich kommentieren würde, verrät der Blick auf seine Themenauswahl und Personendarstellungen unmissverständlich.


Es ist nicht das erste Mal, dass Kühn die Initiatorinnen des "Manifests für Frieden" kritisiert, schon vorher hat er Wagenknecht etwa als russische "Weidelknecht-Puppe" oder als Stiefelleckerin Putins dargestellt, nach der "links die Unterwerfung der Schwächeren" bedeute - da wird jeder Faschist eifrig applaudierend zustimmen. Und Schwarzer sehen Kühns Stifte als Putin-Fangirl, das ihrem Schwarm das Recht geben wolle, Nachbarn zu überfallen. Apropos Nachbarn: Auch der unsägliche Vergewaltigungsvergleich mit der Ukraine ist ein "Running Gag" Kühns.


Seine Ansichten bewegen sich im Rahmen der allseits bekannten "veröffentlichten Meinungen" der letzten Jahre oder sind sogar in diesem Sinne "mehrheitsfähig": Protest gegen Corona-Maßnahmen verortet er klar im rechten Lager, als Teil eines fließenden Übergangs von Anhängern der abenteuerlichen "Umvolkungs"-Theorie hin zur aktuellen Forderung nach Frieden mit Russland. Aggressive Aufrufe für die experimentellen MRNA-Injektionen gegen Covid darf nicht fehlen... und selbst Andrij Melnyk war bereits Motiv einer seiner Karikaturen, in der er mit zwei höflich erhobenen Mittelfingern sein diplomatisches Geschick zur Schau stellt.


Auffallend positiv behandelt Kühn allerdings die USA... nämlich praktisch gar nicht, seit Donald Trump aus dem Amt ist. Die Erstürmung des Kapitol und Trumps Sperre auf diversen Plattformen war nochmal Thema, danach Funkstille, Kritik am Vorgehen von Elon Musks neuer Twitter-Linie ausgenommen. Der nächste ausländische Staatschef, an dem Kühn wieder in Permanenz was auszusetzen hatte, war seit Ende Januar 2022 Wladimir Putin. Joe Biden ist für ihn dagegen praktisch nicht existent.

Und bei den Grünen kennt Kühn keine Scham, seine Begeisterung durchaus zu präsentieren. Sicher, die Koalition mit der FDP, die bei Kühn (und auch bei mir...) keine Sympathien genießt, das war ihm schon eine kurze Kritik wert. Aber Annalena Baerbock braucht vor ihm anscheinend keine Angst zu haben: Aus Frauenfeindlichkeit habe man sie nicht als Kanzlerin gewollt (nach 16 Jahren, in denen Angela Merkel dreimal wiedergewählt wurde...), überhaupt sei sie Zielscheibe der Anfeindungen durch "kneipenwütende Stammtischler". Sicherlich, vieles von dem, was Menschen an Baerbock auszusetzen haben und auch mir zu Ohren kommt, ist wenig geistreich. Allerdings ist es das eine, ob man sich wie ein Vorschulkind über einen Zusammenschnitt von Baerbocks Versprechern kaputtlacht - oder ob man soviel Allgemeinbildung besitzt, dass man zumindest stutzt, wenn Baerbock plötzlich beim Atlantic Council (hier bei Minute 14:23) zuerst ihren Großvater erwähnt, der 1945 an der Oder auf Seiten der Wehrmacht für das untergehende Nazi-Deutschland gekämpft hat, nur um danach zu sagen:


"Wir stehen nicht nur auf den Schultern von Joschka Fischer, sondern auch von unseren Großeltern, die es ermöglicht haben, dass Länder, die Feinde waren, nicht nur wieder im Frieden, sondern auch in Freundschaft miteinander sind."

Und diese wiederbelebte Völkerfreundschaft verdanke man Institutionen wie der EU oder einem starken transatlantischen Bündnis, will heißen: den USA.

Selbst am Kneipenstammtisch, speziell in Ostdeutschland, wird hoffentlich mindestens einer noch so nüchtern sein, dass ihm einfällt, was z.B. die Linkspartei hierauf erwidert hat: "Es ist hier ein merkwürdiger Freispruch, der Baerbocks Feststellung innewohnt: Ehemalige Angehörige der Wehrmacht haben es ermöglicht, dass einst verfeindete Länder nun friedlich miteinander umgehen? [...] Die deutsch-faschistischen Soldaten, darunter Opa Waldemar, haben keine Versöhnung ermöglicht; sie konnten sich glücklich schätzen, wenn man ihnen vergab. Frau Baerbock scheint das nicht zu begreifen – bei mehr als 60 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges, darunter 27 Millionen Sowjetbürgerinnen und -bürger und sechs Millionen Polinnen und Polen. [...] Deutschland führt einen Wirtschaftskrieg gegen Russland, und die Waffenlieferungen machen das Land, von dem zwei Weltkriege ausgingen, objektiv erneut zur Kriegspartei. [...] Darüber denken viele Menschen zunehmend nach, und spürbar kippt die Stimmung – vor allem im Osten, wo einmal gelehrt wurde, dass Deutschland verbrecherische Kriege führte und Schlussfolgerungen daraus gezogen wurden. So – im Gegensatz zur Alt-BRD – auch die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die DDR, die mit der Volksrepublik Polen in Frieden und Freundschaft lebte. Davon scheint Frau Baerbock nie etwas gehört zu haben."


Sicher, das ist für den Rest am Stammtisch vielleicht etwas zu hoch. Darum sei verziehen, dass dies Kühn, dessen Karikaturen sich ebenfalls auf dem ihm ja so vertrauten Stammtisch-Niveau bewegen, keinen Strich wert war. Der schrieb lieber Sachen wie:


"Die Union tat 16 Jahre alles, um uns von Putin abhängig zu machen, AFD und Linke mutieren zu ständigen Vertretungen Russlands, die SPD hat auch nicht nur die Gas-Gerd-Leiche im russischen Keller – kein Wunder, dass die Grünen, als einzige, die niemanden auf Putins Gehaltsliste haben, an allem Schuld sein sollen."


Das mit der Gehaltsliste stimmt definitiv - die Grünen stehen heutzutage lieber mit der Konkurrenz in Verbindung, so wie dem schon erwähnten Atlantic Council.


Fazit


Diether Dehm wird mit einer Strafanzeige wegen einer missverstandenen Karikatur wohl nicht weit kommen, schon gar nicht gegen Melnyk, der sie lediglich geteilt hat. Dass der Urheber Guido Kühn dafür belangt werden könnte, ist auch unwahrscheinlich. Denn so sehr dessen bissige und eigenwillige Darstellungen manchen Leser zur Weißglut bringen - Kühn hat zwei Vorteile: Den Schutz der freien Meinungsäußerung... und eine Meinung, die die Gunst mächtiger politischer Kräfte genießt.


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